Ein kritischer Blick auf Ernährungsstrategien, Tierwohl-Siegel und die Realität

vom mut-Sprecher für Landwirtschaft und Ernährung Heiner Putzier

 

Das Ernährungsstrategie-Papier der Bundesregierung wurde am Donnerstag, den 11.4.2024 im Bundestag diskutiert. Wie zu erwarten war, prallten die unterschiedlichen Positionen der dort vertretenen Parteien aufeinander. Es bleibt abzuwarten, ob die durchaus positiven Inhalte, die auch Ergebnisse des erstmals im Januar 2024 tagenden Bürgerrats enthalten, in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden. Eine gewisse persönliche Skepsis kann ich mir nicht verkneifen, hängt doch sehr viel vom angeblich nicht vorhandenen Geld ab. Zum Beispiel für die erste Empfehlung des Bürgerrats, das kostenlose Mittagessen für alle Kinder. Fachleute schätzen die jährlichen Kosten dafür auf 5 Mrd. Euro. (1)

Im Ernährungsstrategie-Papier auf Seite 15 geht es auch um die Zusammensetzung unserer Nahrung. Der pflanzliche Anteil soll gesteigert werden und zum Anteil von Lebensmitteln tierischen Ursprungs (dazu gehören auch Eier, Käse, Milch, Quark und Joghurt) heißt es: „Gleichermaßen wollen wir Menschen dabei unterstützen, ihren Konsum tierischer Lebensmittel gesundheitsförderlich und nachhaltig zu gestalten“.

Nun hängt die Umsetzung solcher Strategien unweigerlich mit der landwirtschaftlichen Produktion von Lebensmitteln zusammen (auf die industrielle Lebensmittelproduktion und den Lebensmittel-Einzelhandel komme ich später zu sprechen). Interessant finde ich daher folgenden Satz auf Seite 11:
„Allerdings ist der Umbau der Agrarsysteme selbst – im nationalen Bereich, auf europäischer Ebene (Gemeinsame Agrarpolitik – GAP) und international – nicht Gegenstand der Ernährungsstrategie der Bundesregierung. Dieses Thema wird u. a. im Rahmen der Ackerbaustrategie 2035 und im GAP-Strategieplan behandelt.“

Ist dies tatsächlich eine „andere Baustelle“ oder wird dies einfach zurückgestellt, weil zu herausfordernd? Die Vermutung liegt nahe und es ist zu befürchten, dass die guten Ansätze der Ernährungsstrategie letzten Endes zerredet werden und in Kompromissen enden. Nun gehört der Kompromiss in der Politik zum Alltag und wird oft genug von jeder beteiligten Seite als Erfolg gefeiert. Gilt das auch für unsere Nahrung und damit für ein UN – Menschenrecht auf Nahrung (MaN)? (2)

Im §11 (2) heißt es: „Dabei nimmt das MaN vor allem die strukturellen Ursachen von Hunger, Mangel- oder Fehlernährung in den Fokus“. In Deutschland leben wir in Bezug auf Nahrungsmittel im Überfluss. Das soll keinesfalls bedeuten, dass alle Bürger*innen mit ihrem Einkommen die täglich benötigten Lebensmittel kaufen können. Der Andrang bei den Essensausgaben der „Tafeln“ ist ein sichtbares Zeichen, dass dies für immer mehr Menschen in unserem Land nicht möglich ist.

Ich spreche im Folgenden über die Mangel- bzw. Fehlernährung unter anderem bedingt durch den hohen Fleischkonsum zu enorm günstigen Preisen für Endverbraucher*innen. Dieser ist in den letzten Jahren enorm angewachsen. Der Fleischkonsum beträgt in Deutschland derzeit knapp 60 kg pro Jahr und Einwohner, das sind pro Person und Woche ca. 1,2 kg. Die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) lautet: „Gut essen und trinken: Eine gesunde und umweltschonende Ernährung ist zu mehr als ¾ pflanzlich und knapp ¼ tierisch.“ Im Detail empfiehlt die DGE einen wöchentlichen Verzehr von Fleisch und Wurst zwischen 150g und 300g (oder statt dem Fleisch 120g Fisch). (3)

Ohne jetzt über 100g Fleisch mehr oder weniger zu diskutieren: der reale Fleischkonsum in Deutschland – und anderen Industrieländern – ist um ein Vielfaches höher als die Empfehlung der DGE. Die volkswirtschaftlichen Folgekosten dieses „Überkonsums“ sind gigantisch. Sie reichen von individuellen krankheitsbedingten Behandlungskosten und Arbeitsausfällen über Grundwasserschädigungen, Bodenbelastungen bzw. -zerstörung der Humusschicht bis hin zu negativen Einflüssen auf die Artenvielfalt und die Freisetzung von CO2. Letzteres auch bedingt durch enorm weite Transportwege für Futtermittel. Es erschließt sind mir daher nicht, wieso der Umbau der Agrarsysteme keinen Platz in der Ernährungsstrategie der Bundesregierung hat. Bei einem Umfang von 73 Seiten hätte man zumindest ein paar Seiten zu diesem Thema anfügen können und sei es nur eine Empfehlung an die EU, in der gewünschte Veränderungen und Maßnahmen beschrieben wird.

Ob die Ernährungsstrategie der Bundesregierung umgesetzt wird, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Ein sehr wesentlicher ist der Lebensmitteleinzelhandel und die Marktmacht der dort dominierenden Firmen Aldi, Lidl, Edeka und Rewe. Die beiden Erstgenannten haben auch international eine große Bedeutung. Sie gelten in Europa als marktbestimmend und steuern in Australien und den USA auf diese Position zu.
Seit Jahrzehnten bestimmt der Einzelhandel, welche Produkte zu welchem Preis im Regal stehen. Ausgehend von Deutschland hat sich seit den 90er Jahren das Discountprinzip in Europa und über den Globus verbreitet, die „Geiz ist geil“ Mentalität ist sozusagen in der globalen Welt angekommen.

Was hat das mit der in der Ernährungsstrategie der Bundesregierung zu tun? Aus meiner Sicht sehr viel, denn Lebensmittel werden heute in Deutschland zum überwiegenden Teil bei den vier großen LEH-Playern gekauft. Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist die Konzentration im Lebensmittelhandel ähnlich wie in vielen anderen Branchen enorm gewachsen. Für Endverbraucher*innen scheint dies auf den ersten Blick vorteilhaft, denn der Preiswettbewerb unter den genannten vier hat in Deutschland zu einem sehr niedrigen Preisniveau für Lebensmittel geführt.

Die Kehrseite der Medaille ist schwerer zu erkennen, da die Zusammenhänge vielfältig sind und oft erst nach Jahrzehnten zutage treten. Wenn der Preis das entscheidende Werbeargument ist, hat das gerade auf die Produktion von Lebensmitteln einen entscheidenden Einfluss. Es gehört zu den Aufgaben der zentralen Einkaufsabteilungen des Einzelhandels niedrige Einkaufspreise zu erzielen. Bei steigenden Einkaufsvolumen kann dies erreicht werden, vorausgesetzt Lieferant*innen wollen mitwachsen und sind bereit, für dieses Wachstum einen niedrigeren Stückpreis zu berechnen – bei einem insgesamt steigenden Umsatz. Oder aber neue Unternehmen unterbieten den aktuellen Preis und die bestehenden Lieferant*innen steigen auf das niedrigere Niveau ein – oder aber sie verlieren den Auftrag.

Dieses System veranlasst Hersteller*innen nach immer günstigeren Herstellungsmethoden zu suchen bzw. diese selbst zu entwickeln. Die Folgen für die Qualität der Produkte und die Umwelt sind fatal:

  • Automatisierung von Abläufen und damit weniger handwerkliche Lebensmittelproduktion
  • Verlagerung von Produktionen in Länder mit niedrigeren Lohnkosten
  • Einsatz von chemischen Hilfsmitteln z.B. bei der Herstellung von Brot und Backwaren, um die Produktionszeit zu verkürzen
  • Einsatz von künstlichen Geschmacksstoffen, die günstiger als natürliche Aromen sind und leichter industriell verarbeitet werden können
  • Reduzierung von Obst- und Gemüseangebot auf ertragreiche Sorten und damit Verlust von Arten- und Geschmacksvielfalt
  • Anbau von Gemüse und Obst in Monokulturen unter Glas oder Plastik, um zu jeder Jahreszeit möglichst jedes Gemüse und Obst liefern zu können – zu günstigsten Preisen
  • Einsatz von Herbiziden und Pestiziden, um auf möglichst großen Flächen eine Gemüsesorte anbauen und wenn möglich maschinell ernten zu können
  • Die Entstehung der Massentierhaltung (Qualzucht) ist letztendlich auf den enormen Preisdruck zurückzuführen, unter dem die landwirtschaftlichen Betriebe und die Fleischverarbeitung standen und heute noch stehen
  • Der prophylaktische Einsatz von Antibiotika in der Massentierhaltung mit negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Tiere, das durch Gülle belastete Grundwasser und die Entwicklung von antibiotikaresistenten Keimen, die wiederum die menschliche Gesundheit gefährden
  • Milchleistungen pro Kuh von 13.000 l pro Jahr sind aufgrund des Preisdrucks auf die Milchwirtschaft entstanden. Was das für die Kuh bedeutet, interessiert mehr oder weniger niemand
  • Der Preisdruck hat auch dazu geführt, dass sich Lebensmittelhersteller*innen weltweit auf die Suche nach immer günstigeren Produktionsländern gemacht haben. Eine ähnliche Entwicklung hat es in anderen Branchen, z.B. in der Textilindustrie auch gegeben. Dadurch sind die Transportwege und der damit verbundene CO2-Ausstoß enorm gewachsen. Ebenso drastisch gewachsen ist das Verpackungsvolumen, da Lebensmittel bei längerem Transport besonders geschützt werden müssen. Oder aber die Produkte werden unreif geerntet und der Reifeprozess wird während des Transportes künstlich in Gang gesetzt, was wiederum enorme Mengen an Energie kostet.
  • Wenn landwirtschaftliche Betriebe in Afrika oder Südamerika große Volumen an den europäischen/ deutschen Einzelhandel liefern, führt dies häufig dazu, dass kleinbäuerliche Betriebe von ihren Anbauflächen – teilweise mit Gewalt – vertrieben werden
  • Wenn einheimische Lebensmittel in Afrika, Asien oder Südamerika für den europäischen Markt „entdeckt“ werden, führt dies zu steigenden Preisen in den Ursprungsländern. Die Folge: die einheimische Bevölkerung, kann sich dieses Lebensmittel nicht mehr leisten.

Die Liste der negativen Auswirkungen ließe sich noch eine Weile fortsetzen, ist aber auch so schon erschreckend genug. Der Einzelhandel bzw. die Discounter sind aus meiner Sicht Initiator*innen dieser Entwicklung. Aber Endverbraucher*innen haben alle diese Entwicklungen zumindest angenommen, auch wenn sie die negativen Folgen nicht sehen konnten oder nicht sehen wollten.

Mittlerweile liegt es nicht mehr an der fehlenden Information, da Medien fast täglich über die Ernährung und die Folgen von Monokulturen und Massentierhaltung berichten. Der Einzelhandel und besonders die Discounter Aldi und Lidl haben das erkannt und umwerben mit Bio-Siegeln und Versprechungen ihre Kundschaft.

Beide Unternehmen verfügen über ausreichend finanzielle Mittel, um auch bundesweit angelegte Werbekampagne durchzuführen. Internetauftritte sowie Aktionen auf Social-Media sind perfektioniert. Wöchentlich werden geschätzte 40 Millionen Broschüren mit aktuellen Preisangeboten allein von Aldi Süd und Aldi Nord an deutschen Haushalte verteilt. Nachhaltigkeit, Produkte mit Bio-Siegel sowie Fairtrade Produkte spielen in den Werbeaussagen eine wichtige Rolle. Auf den ersten Blick wirkt das vorbildlich, sowohl Aldi als auch Lidl stellen sich als fortschrittliche und nachhaltig agierende Unternehmen dar, die auch beim Fleisch die gesetzlichen Normen deutlich überbieten wollen.

Die Realität sieht leider anders aus: Zum Beispiel hat ein Rechercheteam von NDR und SWR im Herbst 2023 die Werbeaussagen von Aldi für Erdbeeren, Fleisch und Rosen untersucht. Die Dokumentation darüber sind ernüchternd. (4/5/6)

Liegt es vielleicht doch an unserem Wirtschaftssystem, das Wachstum und Wettbewerb mit einem Heiligenschein umgibt, der unantastbar scheint? Wenn wir unser Verhalten nicht ändern, ist die Umweltkatastrophe unausweichlich. Dabei ist es fast nebensächlich, ob diese in 10, 20 oder 30 Jahren eintritt. Aldi und Lidl könnten durch ihre Marktmacht sehr wohl etwas bewegen. Aber sie müssen es auch tun und all die Bio, Fairtrade und sonstigen Siegel nicht nur als Marketinginstrument benutzen.

Politiker*innen in Entscheidungsverantwortung müssen die Ernährungswende vorantreiben. Eine schnelle und wirkungsvolle Maßnahme wäre z.B. die Erhöhung der Mehrwertsteuer für Fleisch auf 19 % und die gleichzeitig Senkung von Gemüse und Obst im besten Fall auf 0 %. Darüber hinaus haben wir als Partei zahlreiche Vorschläge, z.B. in unserem Landtagswahlprogramm 2023 für Bayern.

Das vom Bürgerrat vorgeschlagene kostenlose Mittagessen für Kinder wäre eine Investition in die ernährungspolitische Zukunft unserer Gesellschaft. Zumindest Pilotprojekte in verschiedenen Bundesländern sollten gestartet werden, um u.a. belastbare Daten zum Kostenrahmen zu erhalten und Erfahrungen zu sammeln. Auch hier sind Politiker*innen gefordert solche Projekte umzusetzen.

 

 

1. https://www.bmel.de/DE/themen/ernaehrung/ernaehrungsstrategie.html
2. https://www.bpb.de/themen/globalisierung/welternaehrung/178491/menschenrecht-auf-nahrung/
3. https://www.dge.de/gesunde-ernaehrung/gut-essen-und-trinken/dge-ernaehrungskreis/
4. https://www.ardmediathek.de/video/die-recherche-inside-aldi/folge-1-das-grausame-geschaeft-mit-den-erdbeeren-s01-e01/ndr/Y3JpZDovL25kci5kZS80OTI0XzIwMjMtMDktMDQtMjAtMTU
5. https://www.ardmediathek.de/video/die-recherche-inside-aldi/folge-2-das-scheinheilige-fleisch-versprechen-s01-e02/ndr/Y3JpZDovL25kci5kZS80OTI0XzIwMjMtMDktMDQtMjAtNDU
6. https://www.ardmediathek.de/video/die-recherche-inside-aldi/folge-3-die-giftige-wahrheit-der-billig-rosen-s01-e03/ndr/Y3JpZDovL25kci5kZS80OTI0XzIwMjMtMDktMDQtMjEtMTU
7. https://www.partei-mut.de/landtagswahl/

 

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